Diese Installation, die wie ein universelles Gedicht an die Dauer klingt, zeugt von einer wundersamen Stille, welche, die Schritte des Betrachters verlangsamend, diesen in eine meditative Stimmung der Reflexion über fundamentale Fragen der menschlichen Existenz, zwischen Geburt und Tod, versetzen. Wer sind wir? Woher kommen wir? Und: Wohin gehen wir? Kein Zweifel, dieser sanft unter die Haut gehenden Kunst, mit der die Performancekünstlerin an das Tor zum kollektiven Unbewussten klopft, geht die menschliche Existenz voraus. Alles, was Shiota mit liebender Zärtlichkeit und so poetisch wie in einem Traum zum Ausdruck bringt, beruht auf gelebte Erfahrungen. Leidvolle und schmerzhafte ebenso wie beglückende und hoffnungsvolle. Die tragischen Abstürze des Seins ins Nichts, das Erleben unvermeidlicher Endlichkeit sowie die unerträgliche Schwere bedrohlicher Schicksalsschläge, sind dabei ebenso Quelle wie das Schöne im Leben. Es ist, als arbeite sie an einer harmonischen Balance zwischen den extremen Seiten des Lebens. Nichts wird ausgeklammert, alles fließt mit ein und verleiht den sinnlich konzeptuellen Werken eine buchstäblich unsagbare Komplexität, bestehend aus individuellen und kollektiven Erinnerungen, die sich vor allem erfühlen und erspüren lassen.
So auch in der jüngsten Installation mit dem Titel „I Hope“, die letztendlich an die venezianische anknüpft. Wieder hat sie Boote, ihr gemäß Ableitungen aus zwei zu einer Schale aneinandergelegten Händen, die etwas weiterreichen wollen, als Ausgangspunkt gewählt. Doch diesmal stammen sie nicht aus der Realität genutzter Objekte. Stattdessen hat sie aus Linien wie fragile Skelette anmutende Metallkonstruktionen fabriziert, wodurch die Boote zu transparenten Körpern werden. Diesmal stehen sie auf keinem festen Grund. Vielmehr ist der Bug eines Schiffes ins Senkrechte gekippt. So, als höbe es zu einer langen Reise ins Unbekannte ab. Andere Schiffe sind bereits dem noch die Erde berührenden vorausgeeilt. Die Gegenwart erweist sich hier als Übergang zu einer noch unbestimmten Zukunft. Dass die ungewisse Fahrt als Metapher für das im Zickzack zwischen Hochs und Tiefs verlaufende Leben steht, von dem wir nicht wissen, wohin es uns führt, ist evident.
Anstelle der Schlüssel, aus denen Shiota wie eine Spurensucherin die facettenreichen Geschichten von Menschen herausliest, hat sie einen Haufen von 10.000 Briefen, gedruckt auf rotem Papier, die ihr von überall her zugeschickt wurden, an rote Fäden geheftet. Diesmal bilden diese keine spinnenartigen Labyrinthe. Wie Kordeln baumeln sie geradlinig von der hohen Decke in Richtung Boden. Auch hier wird deutlich, dass die Vorstellungswelt der Künstlerin, die eine individuelle Mythologie entwickelt, die mit den diversen Weltkulturen korrespondiert, die engen Grenzen des Bewusstseins transzendiert und sich ins Kosmische vorwagt.
Wie schon in Venedig, so verlegt sie mit den roten Fäden, die an Blutgefäße und damit an deren Kreislauf erinnern, das unsichtbare Innere des Menschen nach außen ins Sichtbare. Darüber hinaus dienen die Fäden der Vernetzung von Briefen, zu denen sie Menschen beinah aus der ganzen Welt mit der Bitte ermuntert hat, ihre Hoffnungen aufzuschreiben. Das Prinzip Hoffnung hat hier wider den undurchsichtigen Zeiten, in die wir durch die Pandemie von jetzt auf gleich katapultiert wurden, das Sagen. Mehr noch, dadurch, dass Menschen, stellvertretend für alle Länder und Kulturen, an dem Werk partizipieren, ist das Werk nicht mehr das eines Einzelnen, sondern eines temporären Weltkollektivs unterschiedlicher Individuen. Es ist, als läge der hinter all ihrem Tun verborgene Sinn ihrer Kunst der Wunsch nach einer Weltgemeinschaft zugrunde, die sich mehr durch Gemeinsamkeiten als durch Unterschiede auszeichnet. Alles in allem lässt sich Shiota als Existentialistin aus dem offenen Geist der Poesie bezeichnen.
Text: Heinz-Norbert Jocks
Chiharu Shiota wurde in Osaka, Japan (1972) geboren und lebt und arbeitet in Berlin.
Indem sie sich mit grundlegenden menschlichen Anliegen wie Leben, Tod und Beziehungen auseinandersetzt, erforscht Shiota die menschliche Existenz in verschiedenen Dimensionen, indem sie eine Existenz in der Abwesenheit schafft, sei es in ihren großformatigen Fadeninstallationen, die eine Vielzahl von Alltagsgegenständen und externen Erinnerungsstücken beinhalten, oder durch ihre Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien und Videos.
2008 erhielt sie den Art Encouragement Prize des japanischen Ministers für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie. Zu ihren Einzelausstellungen auf der ganzen Welt zählen unter anderem das Mori Art Museum, Tokio (2019); der Gropius Bau, Berlin (2019); die Art Gallery of South Australia (2018); der Yorkshire Sculpture Park, Großbritannien (2018); die Power Station of Art, Shanghai (2017); die K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (2015); die Smithsonian Institution Arthur M. Sackler Gallery, Washington DC (2014); das Museum of Art, Kochi (2013) und das National Museum of Art, Osaka (2008). Sie hat auch an zahlreichen internationalen Ausstellungen teilgenommen, wie dem Oku-Noto International Art Festival (2017), der Sydney Biennale (2016), der Echigo-Tsumari Art Triennale (2009) und der Yokohama Triennale (2001). 2015 wurde Shiota ausgewählt, Japan auf der 56. Biennale von Venedig zu vertreten.